20
Nachdem Rio gegangen war, blieb Dylan ziemlich rastlos zurück. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, ihre Gefühle waren in Aufruhr. Und sie konnte auch nicht umhin, an ihr Leben in New York zu denken. Sie musste doch wenigstens ihre Mutter wissen lassen, dass es ihr gut ging.
Dylan knipste eine Lampe an, ging ins Schlafzimmer hinüber und holte ihr Handy aus seinem Versteck. Seit sie hier angekommen war, hatte sie es fast vergessen, sie hatte es aus der Seitentasche ihrer Cargohose geholt und bei der erstbesten Gelegenheit unter die Matratze von Rios Bett gestopft, um das Ding in Sicherheit zu bringen.
Sie schaltete es ein und versuchte, das melodische Läuten zu dämpfen, als es anging. Es war ein Wunder, dass überhaupt noch Saft im Akku war, aber sie dachte sich, dass ein Balken auf der Ladeanzeige immerhin besser war als keiner.
Sie haben Voicemail, informierte sie das erleuchtete Display.
Sie hatte wieder Netz. Oh, Gott sei Dank.
Die Rückrufnummer in der ersten Nachricht war eine New Yorker Nummer - eine von Coleman Hoggs Büronummern. Sie hörte die Nachricht ab und war nicht im Geringsten überrascht, ihn vor Wut schäumen und fluchen zu hören über die Unverschämtheit, seinen Fotografen in Prag versetzt zu haben. Dylan übersprang den Rest seiner Tirade und ging zur nächsten Nachricht. Es war eine zwei Tage alte Nachricht ihrer Mom, die sich einfach nur melden und sagen wollte, dass sie sie liebte und hoffte, dass sie sich gut amüsierte. Sie klang müde und so erschöpft, dass sich Dylans Herz zusammenzog.
Und noch einmal ihr Chef. Dieses Mal sogar noch wütender. Er würde ihr das Honorar des Fotografen vom Gehalt abziehen, und ihre E-Mail, in der sie um noch etwas Extraurlaub im Ausland bat, betrachtete er als ihre Kündigung. Dylan war hiermit ab sofort arbeitslos.
„Na toll“, murmelte sie, als sie zum nächsten Anruf weiterklickte.
Irgendwie konnte sie sich nicht dazu aufraffen, sich über den Verlust ihres Arbeitsplatzes aufzuregen, aber der Verlust ihres Gehaltschecks würde sie empfindlich treffen, und das schon sehr bald. Es sei denn, sie würde rasch etwas Besseres, Größeres finden. Etwas Monumentales.
Einen echten Knüller mit Biss - oder vielmehr mit Fangzähnen.
„Nein“, sagte sie sich scharf, bevor die Idee in ihrem Kopf vollständig Gestalt annehmen konnte.
Diese Story konnte sie jetzt nicht bringen. Nicht, wenn sie immer noch mehr Fragen hatte als Antworten - wenn sie selbst doch Teil dieser Story geworden war, so bizarr das auch klang.
Und dann war da noch Rio.
Wenn sie einen Grund brauchte, ihr neu gewonnenes Wissen über die Existenz einer anderen Spezies, die neben der Menschheit lebte, für sich zu behalten, dann war er das. Sie wollte ihn nicht verraten oder seine Spezies auch nur irgendwie in Gefahr bringen. Das kam nicht mehr in Frage, jetzt, wo sie ihn besser kannte. Jetzt, wo sie begann, etwas für ihn zu empfinden, wie gefährlich das letztendlich auch sein mochte.
Was gerade zwischen ihnen geschehen war, hatte sie schwer erschüttert. Der Kuss war Wahnsinn gewesen. Das Gefühl von Rios Körper, wie er sich so innig an ihren presste, war das Schärfste gewesen, was ihr je untergekommen war. Und das Gefühl seiner Zähne - seiner Fangzähne, wie sie über die empfindliche Haut ihres Halses strichen, war sowohl angsterregend als auch erotisch gewesen. Hätte er sie wirklich gebissen? Und wenn, was für Auswirkungen hätte es auf sie gehabt?
So schnell, wie er aus dem Raum geflohen war, würde sie das wohl nie erfahren. Und wirklich, bei diesem Gedanken sollte sie sich eigentlich nicht so leer fühlen.
Was sie jetzt tun musste, war, hier rauszukommen - wo immer sie hier auch war, zurück in ihr altes Leben. Zurück zu ihrer Mom, für die sie da sein wollte und die inzwischen vermutlich schon ganz, verrückt war vor Sorgen um sie, jetzt, da Dylan sich drei ganze Tage nicht mehr gemeldet hatte.
Die nächsten drei Anrufe kamen vom Zentrum für Straßenkids, alle von gestern und gestern Abend. Es waren keine Nachrichten hinterlassen worden, aber sie waren so kurz nacheinander gekommen, dass es dringend sein musste.
Dylan drückte die Kurzwahltaste der Nummer ihrer Mutter und wartete. Es läutete und läutete, niemand nahm ab. Ihre Mutter ging auch nicht ans Handy Das Herz schlug Dylan bis zum Hals, als sie die Nummer des Zentrums wählte. Es war die Durchwahl ihrer Mom, aber es war Janet, die abnahm.
„Guten Morgen, Sharon Alexanders Apparat.“ „Janet, hi. Ich bin's, Dylan.“
„Oh ... hallo. Liebes. Wie geht's dir?“ Die Frage klang seltsam vorsichtig, so als wüsste Janet schon - oder dachte zumindest, dass sie es wüsste -, dass Dylan vermutlich keinen guten Tag hatte. „Bist du im Krankenhaus?“
„Ähm ... nein.“ Dylan rutschte das Herz in die Hose. „Was ist los? Ist es Mom? Was ist passiert?“
„Oh mein Gott“, murmelte Janet. „Das heißt, du weißt es noch nicht? Ich dachte, Nancy würde dich anrufen ... Wo bist du, Dylan? Bist du wieder zu Hause?“
„Nein“, sagte sie und merkte kaum, dass sie redete, so kalt war der Schmerz, der ihre Brust durchfuhr. „Nein, ich bin ... ähm, ich bin immer noch unterwegs. Wo ist meine Mom, Janet? Ist sie okay? Was ist mit ihr passiert?“
„Sie hat sich schon nach der Benefizkreuzfahrt neulich etwas angeschlagen gefühlt, und gestern Nachmittag ist sie hier im Zentrum zusammengebrochen. Dylan, Liebes, es geht ihr gar nicht gut. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, und die haben sie gleich dabehalten.“
„Oh Gott.“ Dylans ganzer Körper fühlte sich betäubt, erstarrt an. „Ist es ein Rückfall?“
„Anscheinend ja, das sagen sie.“ Janets Stimme war leiser, als Dylan sie je gehört hatte. „Liebes, es tut mir so leid.“
Lucan war alles andere als erfreut darüber, dass man ihn und Gabrielle am helllichten Tag aus dem Bett holte, aber sobald er den Grund für die Störung erfuhr, war der Anführer des Ordens sofort voll bei der Sache und richtete seine ganze Aufmerksamkeit umgehend auf das Problem.
Er hatte sich eine dunkle Jeans und ein seidenes Oxfordhemd übergezogen und war auf den Korridor hinausgekommen, wo Rio, Nikolai und Chase ihn erwarteten.
„Gideon muss sich die Datenbanken vornehmen“, sagte Lucan, klappte sein Handy auf und wählte die Kurzwahltaste ins Quartier des Kriegers. Er murmelte einen Gruß und eine abrupte Entschuldigung für die Störung und gab ihm dann die Neuigkeiten durch, die Rio und die anderen ihm soeben überbracht hatten. Während die vier den Korridor hinunter auf das Techniklabor, Gideons persönliche Kommandozentrale, zugingen, beendete Lucan das kurze Gespräch und klappte sein Handy zu. „Er ist unterwegs. Verdammt noch mal, ich hoffe sehr, du irrst dich, Rio.“
„Ich auch“, entgegnete der. Ihm war genauso mulmig bei der Sache wie den anderen.
Gideon brauchte nur wenige Minuten, um sich diesem so überstürzt einberufenen Treffen zuzugesellen. Er kam in grauen Trainingshosen und einem weißen ärmellosen T-Shirt ins Labor, seine Turnschuhe waren nicht einmal zugeschnürt, so eilig war er hineingefahren und hergerannt. Er ließ sich in seinen Drehstuhl vor der Computerkonsole fallen und begann, auf mehreren Rechnern Programme aufzurufen.
„Okay, wir strecken jetzt unsere Fühler aus zu jeder Agenturfiliale und Einwohnerliste der Dunklen Häfen, einschließlich der Internationalen Stammdatenbank“, sagte er mit Blick auf die Monitore, als Datenlisten erschienen und langsam durchzulaufen begannen. „Hm. Das ist komisch. Du hast gesagt, einer der toten Gen-Eins-Vampire war aus Seattle?“
Nikolai nickte.
„Nun, nicht laut dieser Liste hier. In Seattle gibt es nichts, null Einträge - keine Todesmeldungen in letzter Zeit. Und bei ihnen ist überhaupt kein Gen Eins gemeldet, wobei das durchaus sein kann.
Schließlich gibt es die Internationale Stammdatenbank erst seit ein paar Jahrzehnten, sie ist keinesfalls vollständig. Wir haben hier ein paar der ältesten Stammesmitglieder aufgelistet, aber die meisten der etwa zwanzig überlebenden Gen Eins halten sich sehr bedeckt. Dem Gerücht nach sind etliche von ihnen richtige Einsiedler, die seit einem Jahrhundert oder länger nicht einmal in die Nähe eines Dunklen Hafens gekommen sind. Ich schätze, sie denken, dass sie sich nach den über tausend Jahren, die sie schon auf der Welt sind, etwas Autonomie verdient haben. Stimmt's, Lucan?“
Lucan, selbst neunhundert Jahre alt und nicht in der Internationalen Stammdatenbank aufgeführt, stieß als Antwort lediglich einen Grunzlaut aus, die grauen Augen schmal und auf die Monitore gerichtet. „Was ist mit Europa? Gibt es was über diesen Gen Eins, den Reichen erwähnt hat?“
Gideon hämmerte mit Lichtgeschwindigkeit auf seine Tastatur ein und hackte sich stirnrunzelnd in ein weiteres gesichertes Softwaresystem, als wäre es ein Kinderspiel. „Scheiße. Nein, auch da ist nichts. Ich sag dir, diese Funkstille kommt mir verdammt unheimlich vor.“
Rio musste ihm zustimmen. „Wenn niemand die Morde an Gen- Eins-Vampiren meldet, dann könnte es sogar noch mehr geben als nur diese beiden Fälle, von denen wir wissen.“
„Das müssen wir herausfinden“, sagte Lucan. „Wie viele Gen Eins sind weltweit in der Internationalen Stammdatenbank registriert, Gideon?“
Der Krieger ließ eine Schnellsuche durchlaufen. „In Europa und den Staaten sind es insgesamt sieben. Ich drucke die Liste mit Namen und Zugehörigkeit zu den Dunklen Häfen aus.“
Nachdem die einseitige Liste aus dem Laserdrucker gekommen war, fuhr Gideon auf seinem Drehstuhl herum und reichte sie Lucan. Er überflog sie. „Die meisten dieser Namen kenne ich. Und ich kenne noch ein paar mehr, als auf der Liste stehen. Tegan kennt wahrscheinlich noch ein paar weitere.“ Er legte die Liste auf den Konferenztisch, damit Rio und die anderen einen Blick darauf werfen konnten. „Fehlen auf der Liste Gen-Eins-Namen, die ihr kennt?“
Rio und Chase schüttelten die Köpfe. „Sergej Yakut“, murmelte Niko.
„Den hab ich mal als Kind in Sibirien gesehen. Er war der erste Gen Eins, den ich je getroffen habe - zur Hölle noch mal, der einzige, bis ich nach Boston kam und Lucan und Tegan getroffen habe. Yakut ist nicht auf dieser Liste.“
„Denkst du, du könntest ihn finden, wenn du müsstest?“, fragte Lucan. „Vorausgesetzt, er ist nicht schon lange tot.“
Niko lachte leise in sich hinein. „Sergej Yakut ist ein verdammt zäher Bursche. Zu zäh, um zu sterben. Jede Wette, dass er noch lebt, und ja, wenn er noch lebt, könnte ich ihn vermutlich lokalisieren.“
„Gut“, sagte Lucan mit düsterer Miene. „Ich will das schnell erledigt haben. Nur für den Fall, dass wir es hier mit einer potenziellen Mordserie zu tun haben, brauchen wir Namen und Aufenthaltsort jedes einzelnen Gen Eins unserer Bevölkerung.“
„Ich bin sicher, die Agentur kennt noch einige andere, als wir hier haben“, fügte Chase hinzu. „Ich habe immer noch ein paar Freunde dort. Vielleicht wissen sie etwas oder können mir Tipps geben, wer etwas wissen könnte.“
Lucan nickte. „Gut. Klemm dich dahinter. Aber ich weiß, dass ich dir nicht extra sagen muss, dass du deine Karten im Umgang mit ihnen bedeckt halten musst. Du hast vielleicht ein paar Freunde bei der Agentur, aber auf den Orden scheißen sie. Und sei mir nicht böse, Harvard, aber diesen unfähigen Arschkriechern aus den Dunklen Häfen traue ich gerade so weit, wie ich sie treten kann.“
Lucan wandte sich mit ernstem Gesicht an Rio. „Was dein anderes Szenario angeht - dass der Alte wiederbelebt wurde und nun als Zuchthengst für eine neue Linie Vampire erster Generation benutzt wird?“ Er schüttelte den Kopf und stieß einen leisen Fluch aus. „Ein Albtraum, mein Freund. Aber es könnte durchaus was dran sein.“
„Wenn was dran ist“, sagte Rio, „dann hoffen wir mal, dass wir bald eine Spur finden. Und dass der Mistkerl nicht schon ein paar Jahrzehnte Vorsprung hat.“
Erst als er es ausgesprochen halle erkannte Rio, dass er „wir“ gesagt hatte, als er über die Krieger und ihre Ziele geredet hatte. Er schloss sich selbst mit ein, wenn er an den Orden dachte. Er begann sogar schon wieder, sich als Teil des Ganzen zu fühlen - ein funktionierendes, vollwertiges Mitglied wie er so mit Lucan und den anderen dort stand, Pläne schmiedete und über Strategien redete.
Und es fühlte sich gut an.
Vielleicht konnte es hier doch noch einen Platz für ihn geben. Er war ein Wrack, und er hatte Mist gebaut, aber vielleicht konnte er wieder zu dem werden, der er einst gewesen war.
Immer noch klammerte er sich an diese kleine Hoffnung, als von einer von Gideons Überwachungsstationen des Hauptquartiers ein kleiner Piep ertönte. Der Krieger fuhr auf seinem Bürostuhl zu dem Computer hinüber und runzelte die Stirn.
„Was ist das?“, fragte Lucan.
„Ich empfange ein aktives Handysignal, hier im Hauptquartier - und es ist keines von unseren“, erwiderte er und sah zu Rio hinüber. „Es geht hinaus und kommt aus deiner Wohnung.“
Dylan.
„Heilige Scheiße“, stieß Rio hervor, wütend auf sich selbst und auf sie. „Sie sagte, sie hätte keins dabei.“
Verdammt noch mal. Dylan hatte ihn angelogen. Und wenn er auch nur halbwegs auf Zack gewesen wäre, wie er sollte, dann hätte er die Frau von Kopf bis Fuß durchsucht, bevor er auch nur daran gedacht hätte, ihr zu glauben.
Eine Reporterin mit einem Handy. Da saß sie wohl gerade in seinem Quartier und erzählte alles, was sie gehört und gesehen hatte, CNN - enttarnte den Stamm vor der Menschheit, und das direkt vor seiner Nase.
„Es war nichts in ihrem Gepäck, das darauf hindeutete, dass sie ein Handy dabeihaben könnte“, murmelte Rio, eine jämmerliche Entschuldigung, und er wusste es. „Verdammt, ich hätte sie durchsuchen sollen.“
Gideon tippte etwas auf einer seiner vielen Steuerkonsolen. „Ich kann ein Störsignal schicken und ihre Verbindung kappen.“
„Tu's“, sagte Lucan. Und zu Rio gewandt, sagte er: „Wir haben hier ein paar offene Punkte, die dringend abgehakt werden müssen, Mann.
Einschließlich der Kleinen in deinem Quartier.“
„Ja“, sagte Rio. Er wusste, Lucan hatte recht. Dylan musste eine Entscheidung treffen, und nun, wo der Orden andere Sorgen hatte, wurde die Zeit knapp.
Lucan legte Rio eine Hand auf die Schulter, „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich Dylan Alexander persönlich kennenlerne.“
„Janet - hallo? Ich habe Moms Zimmernummer nicht verstanden. Hallo ... Janet? Bist du noch da?“ Dylan nahm das Handy vom Ohr. Kein Netz. „Scheiße.“
Sie hielt das Gerät vor sich in die Höhe und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, um eine Stelle zu finden, wo sie wieder ein Signal empfing. Aber ... nichts. Das verdammte Ding war tot, ließ sie einfach im Stich, obwohl der Akku immer noch etwas Saft hatte.
Das panische Trommeln ihres Pulses hinderte sie daran, klar zu denken.
Ihre Mom war im Krankenhaus.
Rückfall ... oh Gott.
Nur knapp widerstand sie dem Drang, das nutzlose Handy gegen die nächste Wand zu knallen. „Verdammtes Scheißding!“
Völlig außer sich lief sie ins Wohnzimmer hinüber, um es dort noch einmal zu versuchen - und erschrak fast zu Tode, als die Wohnungstür nach innen aufging, als hätte eine Sturmbö aus dem Korridor sie aufgeblasen. Rio stand da.
Und er war stinksauer.
„Gib's mir.“
Seine blitzenden bernsteingelben Augen und ausfahrenden Fangzähne jagten ihr eine Heidenangst ein, aber auch sie war stinksauer und angesichts der schlechten Nachrichten über den Zustand ihrer Mutter völlig am Boden. Sie musste sie sehen. Musste verdammt noch mal raus aus die dieser Scheinwirklichkeit, in die sie entführt worden war, und zurück zu den Dingen, die ihr wirklich wichtig waren.
Herr im Himmel, dachte sie, kurz davor durchzudrehen. Ihrer Mom ging es wieder schlecht, und sie lag allein in irgendeinem Krankenhauszimmer. Sie musste zu ihr.
Rio trat ins Zimmer. „Das Handy, Dylan. Gib es mir. Jetzt.“
Da erst bemerkte sie, dass er nicht allein war. Hinter ihr auf dem Korridor stand ein Berg von einem Mann - fast zwei Meter groß, mit schwarzer Mähne, und trotz seines ruhigen Auftretens wirkte er äußerst bedrohlich. Er blieb draußen stehen, als Rio ins Zimmer stapfte und auf Dylan zukam.
„Hast du was mit meinem Handy angestellt?“, fragte sie hitzig. Rio und dieser andere jagten ihr einen gewaltigen Sehrecken ein, aber sie sorgte sich zu sehr um ihre Mom, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was in der nächsten Minute mit ihr geschehen würde. „Was hast du gemacht, es abgestellt? Sag's mir! Was, verdammt noch mal, hast du gemacht?“
„Du hast mich angelogen, Dylan.“
„Und du hast mich entführt!“ Sie hasste es, dass ihr jetzt die Tränen über die Wangen rannen. Fast so sehr, wie sie ihre Gefangenschaft hasste, und den Krebs und den kalten Schmerz, der sich seit ihrem Anruf im Zentrum in ihrer Brust eingenistet hatte.
Rio hob die Hand, als er auf sie zukam. Auch der Mann im Korridor kam nun herein. Keine Frage, er war ein Vampir - ein Stammeskrieger wie Rio. Seine grauen Augen schienen sie zu durchdringen wie Klingen, und mit dem Instinkt eines Tieres, das ein Raubtier wittert, erkannte sie, dass Rio zwar gefährlich war, aber dieser andere ungleich viel mächtiger. Älter, trotz seines jungen Aussehens. Und tödlicher.
„Wen hast du angerufen?“, fragte Rio wütend.
Das würde sie ihm nicht sagen. Sie verbarg das kleine Handy in der Faust, aber im selben Moment spürte sie, wie eine unsichtbare Kraft ihre Finger erfasste, sie einzeln aufbog. Sie kämpfte dagegen an, aber es war hoffnungslos. Dylan keuchte auf, als ihr das Handy aus der Hand flog und auf der ausgestreckten Handfläche des Vampirs landete, der nun neben Rio stand.
„Da sind ein paar Nachrichten von der Redaktion“, verkündete er finster. „Und mehrere Anrufe nach draußen, zu anderen New Yorker Nummern. Die Wohnung einer gewissen Sharon Alexander, dann ihre Handynummer, und dann ein Anruf zu einer unterdrückten Nummer in Manhattan. Den haben wir gerade unterbrochen.“
Rio stieß einen deftigen Fluch aus. „Hast du gerade jemandem von uns erzählt? Oder was du gesehen hast?“
„Nein!“, rief sie. „Ich habe gar nichts erzählt, ich schwöre es. Ich bin keine Bedrohung für euch ...“
„Da wären diese Fotos, die Sie verbreitet haben, und die Story, die Sie Ihrem Arbeitgeber geschickt haben“, erinnerte sie der Dunkle, so wie man vermutlich den zum Tode Verurteilten noch einmal die Gründe verlas, derentwegen sie auf dem Weg in die Gaskammer waren.
„Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen“, sagte sie und überhörte Rios höhnisches Schnauben. „Die Nachricht von der Redaktion? Das war mein Boss, der mich wissen ließ, dass ich gefeuert bin. Nun, genau genommen war das meine unfreiwillige Kündigung, wegen eines geplatzten Termins in Prag, weil ich so damit beschäftigt war, mich entführen zu lassen.“
„Du hast deinen Job verloren?“, fragte Rio finster.
Dylan zuckte die Schultern. „Es ist egal. Jedenfalls bezweifle ich, dass mein Boss jetzt noch etwas von dem verwenden wird, was ich ihm geschickt habe, weder Fotos noch Text.“
„Das ist nicht mehr von Belang.“ Der Grimmige starrte sie an, als wolle er ihre Reaktion abschätzen. „Das Virusprogramm, das wir ihm geschickt haben, sollte mittlerweile jede Festplatte in seiner Redaktion leer gefegt haben. Den Rest der Woche wird er ausschließlich mit Schadensbegrenzung beschäftigt sein.“
Eigentlich sollten ihr diese Neuigkeiten keine Freude machen, aber die Vorstellung von Coleman Hogg, wie er bis zu den Knien in gecrashten Festplatten watete, war der einzige Lichtblick in einer ansonsten unerfreulichen Lage.
„Derselbe Virus ging an alle anderen Empfänger, denen Sie die Fotos geschickt haben“, informierte er sie. „Somit wären sämtliche Beweise vernichtet, aber wir müssen uns dennoch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass immer noch mehrere Personen herumlaufen, die etwas wissen, was sie nicht wissen dürfen, und dies wissentlich oder unwissentlich anderen weitergeben könnten. Dieses Risiko müssen wir eliminieren.“
Dylans Magen wurde zu Eis. „Was meinen Sie damit ... das Risiko eliminieren?“
„Sie müssen eine Entscheidung treffen, Miss Alexander. Heute Abend werden Sie entweder in eines der hiesigen Vampirreservate gebracht und stehen fortan unter dem Schutz des Stammes, oder Sie werden in Ihre New Yorker Wohnung zurückkehren.“
„Ich muss nach Hause“, sagte sie. Da gab es gar nichts zu entscheiden. Sie sah zu Rio hinüber, der sie mit unergründlichem Gesicht anstarrte. „Ich muss sofort nach New York zurück. Meinen Sie etwa, Sie werden mich einfach gehen lassen?“
Der harte graue Blick richtete sich jetzt auf Rio, ohne ihr eine Antwort zu geben. „Heute Abend brichst du zu Miss Alexanders Wohnung in New York auf. Ich will, dass du dich um sie kümmerst; Niko und Kade werden sich die anderen Personen vornehmen, mit denen sie in Kontakt war.“
„Nein!“, stieß Dylan hervor. Das Eis in ihrem Magen wuchs plötzlich an zu einem Gletscher der Angst. „Oh mein Gott - nein, das können Sie doch nicht ... Rio, sag ihm ...“
„Ende der Diskussion“, sagte der Dunkle, und zwar zu Rio, nicht zu ihr. „Ihr geht bei Sonnenuntergang.“
Rio nickte feierlich, nahm den Befehl entgegen, als machte es ihm gar nichts aus. Als hätte er das schon Hunderte von Malen getan.
„Von heute Nacht an, Rio, keine Patzer mehr.“ Die harten Augen glitten kurz zu Dylan hinüber, dann wieder zu Rio. „Keinen einzigen mehr.“
Als sein furchterregender Freund gegangen war, wandte sich Dylan mit zittriger Stimme an Rio. „Was hat er gemeint, das Risiko eliminieren, keine Patzer mehr?“
Rio starrte sie düster an. Vorwurf lag in diesem durchdringenden topasfarbenen Blick, eine sengende Kälte und nur sehr wenig von dem angeschlagenen, sanften Mann, den sie erst vor Kurzem in diesem Zimmer geküsst hatte. Ihr wurde kalt unter diesem Blick, als blicke sie einen Fremden an.
„Ich werde nicht zulassen, dass du oder deine Freunde jemandem wehtun“, sagte sie zu ihm und wünschte sich, die Stimme würde ihr nicht versagen, wie sie es gerade tat. „Ich werde nicht zulassen, dass ihr sie tötet!“
„Niemand wird sterben, Dylan.“ Sein Blick war ausdruckslos, so distanziert, dass es sie nur wenig beruhigte. „Wir werden ihnen die Erinnerung daran nehmen, was sie auf deinen Fotos gesehen haben, und an alles, was du ihnen vielleicht über den Stamm oder die Höhle erzählt hast. Wir werden niemandem wehtun, aber wir müssen ihnen die Erinnerung an all diese Dinge nehmen.“
„Aber wie? Ich verstehe nicht ...“
„Das musst du auch nicht“, sagte er leise.
„Weil auch ich mich an nichts mehr erinnern werde. Ist es das, was du meinst?“
Er sah sie lange schweigend an. Sie suchte in seinem Gesicht nach irgendeiner Regung, außer der steinernen Entschlossenheit, die er ausstrahlte. Alles, was sie sah, war ein Mann, der vollkommen bereit war, die Aufgabe auszuführen, die man ihm aufgetragen hatte, ein Krieger, der vollkommen in seiner Mission aufging. Und weder die Zärtlichkeit, die sie zuvor in ihm gesehen hatte, noch das Begehren, von dem sie gedacht hatte, dass er es für sie empfand, würden ihm dabei im Wege stehen. Sie war seine Gefangene und ihm vollkommen ausgeliefert. Nur ein lästiges Problem, das er aus der Welt zu schaffen hatte.
Rios Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, als er vage den Kopf schüttelte. „Heute Abend gehst du nach Hause, Dylan.“
Sie sollte doch eigentlich glücklich sein, das zu hören - zumindest erleichtert. Aber als Dylan ihm nachsah, wie er den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss, fühlte sie sich seltsam verloren.